The Sleepwalkers: How Europe went to War in 1914 / Christopher Clark

War das Deutsche Kaiserreich alleine Schuld am Ersten Weltkrieg? Und damit am Tod von 17 Millionen Menschen? Der Australier Christopher Clark stellt mit seinem ausführlichen und fundierten Werk, welches mittlerweile zu einem Bestseller geworden ist, infrage, was lange Zeit als Gewissheit galt. Die Lektüre dieses Werkes lohnt sich nur schon deshalb, auch wenn man nicht in allen Belangen der Meinung des Autors sein muss oder kann.

 

Seit dem Klassiker zur Kriegsschuld „Griff nach der Weltmacht“ des Hamburger Historikers Fritz Fischer in den 60er-Jahren schien die Frage eigentlich hinlänglich beantwortet. Deutschland hat den Ersten Weltkrieg angezettelt und trägt die Hauptschuld an der „Ur-Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Diesem Autor folgend, strebte Kaiser Wilhelm II. nach den gescheiterten Kolonialabenteuern die Vormachtstellung des Deutschen Reiches in Kontinentaleuropa an.

 

Clark stellt in seinem sehr gut geschriebenen Buch, ich habe es in der Originalsprache Englisch studiert, diese Lesart infrage und löste damit eine notwendige Debatte über die eigentlichen Kriegsursachen aus. Clark hat ja bereits eine preisgekrönte Geschichte zu Preussen veröffentlicht. Nun bricht er mit seinem neuen Werk den „Konsens“ auf: Nicht nur Deutschland – alle Mächte Europas zündeten an der Lunte, mit der sich schliesslich der Konflikt entlud.

 

Ob in Berlin, Moskau, St. Petersburg, London oder Wien: Monarchen und Militärs, Minister und Diplomaten trieben ihr Spiel so lange, bis ihnen am Ende die militärische Konfrontation als unausweichlich erschien. Mit einfachen Erklärungen kann Clark, der in Cambridge lehrt, nicht helfen: Die Julikrise von 1914, die zur Mobilisierung von Europas Bataillonen und schliesslich zum globalen Krieg führte, sei das komplexeste Ereignis aller Zeiten.

 

Der Australier hat in seiner akribischen Quellenstudie die Mentalität der Herrscher im alten Europa nachgezeichnet. Er beschreibt, wie Vorurteile und Misstrauen die Politik bestimmten, Intrigen und Geheimdiplomatie die labile Vorkriegs-Balance aushöhlten.

 

Der Krieg, den der Terroranschlag auf den österreichischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und dessen Frau am 28. Juni 1914 in Sarajevo auslöste, erscheint bei Clark nicht als zwangsläufiges Ereignis. Wenn nur einer der beteiligten Staaten die Notbremse gezogen hätte, wäre die Tat des serbischen Nationalisten Gavrilo Princip heute eine Fussnote der Geschichte, meint der Autor. Das Sterben von mehr als 17 Millionen Menschen hätte verhindert werden können.

 

Clark beschreibt, wie Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland und Grossbritannien (dazu kommen Italien und das Osmanische Reich) in einem Wirrwarr aus Versprechungen, Drohungen, Plänen und Prognosen gefangen waren. Ob der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg oder seine Kollegen in Paris oder Moskau: Clark schildert, wie die Staatsmänner die Interessen ihrer Regierungen in den Vordergrund stellten und sich kaum für die Konsequenzen ihres Handelns interessierten.

 

Für mich war die Lektüre dieses dicken Buches zwar eine anstrengende Aufgabe, aber sie war auch sehr lohnenswert. Vor etwa vier Jahren, anlässlich eines Besuches in Theresienstadt, in der nordwestlich von Prag gelegenen Stadt bei Litomerice CZ, dem ehemaligen Gefängnis für politische Gefangene Österreich-Ungarns und späteren KZ, besichtigte ich auch die Gefängniszelle von Gavrilo Princip. Die Ausführungen unseres Tour-Guide’s machten mir klar, dass ich wenig bis nichts vom 1. Weltkrieg und seinen Ursachen und Konsequenzen wusste. Das stimmte mich sehr nachdenklich und ich nahm mir vor, das bei Gelegenheit nachzuarbeiten.


Christopher Clark hat mir dies ermöglicht, auch wenn mir klar ist, dass seine Deutung der Geschehnisse nicht die einzige ist und er darin auch höchst umstrittene Meinungen vertritt. So wird ihm z.B. vorgeworfen, die Rolle Serbiens in diesem Zusammenhang allzu stark aus der Sicht der Gegenwart zu schildern und damit seine deutlich kritische Meinung zur Rolle Serbiens in Balkankonflikten der neueren Zeit zu zementieren. Alles in allem bin ich aber froh, die notwendige Zeit für Clark’s Werk aufgewendet zu haben und kann dieses mit gutem Gewissen weiterempfehlen. Gerade heute habe ich ein hörenswertes Interview mit dem Autor auf SRF gehört, zu dem ich gerne den untenstehenden Link liefere.

 

Interview mit Christopher Clark auf SRF:

http://www.srf.ch/sendungen/kontext/geteilte-europaeische-verantwortung-christopher-clark-im-gespraech

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