"The American Constitution - a Biography"

Mein Vorwissen bezüglich der amerikanischen Verfassung war sehr beschränkt. Im Studium immerhin hörten wir von den unterschiedlichen Charakteren der „Declaration of Independence“ und der späteren „American Constitution“. In einem Grund-lagenwerk von Charles A. Beard (1913) wurde klar dazu festgehalten, dass erstere eine idealistische Vision der amerikanischen Demokratie auf der Grundlage von John Locke’s Grundsatz „all men are created equal“ sei. Die Verfassung, auf der anderen Seite, war primär dazu da, den Interessen der Reichen zu dienen. Sie unterminiere demokratische Ideale, z.B. mit der Regel, dass ein Sklave zu 2/3 einer Person in die Berechnung des Quorums eines Wahldistriktes für den Kongress zählen würde. So mein bisheriger Kenntnisstand.

 

Das stimme allerdings nicht wirklich oder sei zumindest viel zu verkürzt, argumentiert Akhil Reed Amar in seinem MOOC zur Amerikanischen Verfassung mit viel Überzeugungskraft. Bereits die ersten Worte der Präambel – „We the People of the United States“ – zeigt gemäss seiner Auffassung die tief demokratische Vision der Nation, welche hiermit begründet werden sollte. Er macht klar, dass der Prozess der Ratifikation der neuen Verfassung einer bisher einzigartig breiten Klasse von Bürgern offenstand, indem die Einschränkungen des Wahlrechts zu den Verfassungs-Konventen generell tiefer lagen als bisher in den Einzelstaaten (z.B. bezüglich des notwendigem Eigentums) oder sogar, in einzelnen Staaten, gänzlich wegfielen. Natürlich ist aus heutiger Sicht die Tatsache, dass immer noch die Hälfte der wahlfähigen Männer (von den Frauen und den nicht-weissen Bewohnern ganz abgesehen) vom Wahlrecht ausgeschlossen war, kein Grund für Freude, aber es war besser als das, was man sich zu dieser Zeit weltweit gewohnt war. In 1787 gab es die demokratische Selbstbestimmung eines Volkes fast nirgends auf der Welt, wenn man einmal von der Schweiz und England absieht, allerdings ebenfalls mit spezifischen, drastischen Einschränkungen.

 

Tatsächlich war dieser Makel für Amar absolut grundlegend und notwendig, damit das strategische Ziel einer dauerhaften Union mit einer gemeinsamen Verteidigung erreicht werden konnte. Nur so konnte verhindert werden, dass sich die einzelnen Staaten der „neuen Welt“ nicht in gegenseitigen Kriegen und Rivalitäten, wie in Europa zu dieser Zeit üblich, aufrieben. Mit der Betonung, dass die Macht der neuen Union vom Volk / den Bürgern und nicht von den einzelnen Teilstaaten abzuleiten war, fanden die Gründer die notwendige Basis für eine „ewige“ Union, aus der man nicht mehr austreten konnte.

 

Diese Vision stand allerdings in Kontrast mit der Realität, dass einzelne, souveräne Staaten überzeugt werden mussten, dieser neuen Union beizutreten. Damit dies erreicht werden konnte, wurde die obige 2/3-Regel als Kompromiss implementiert. Somit konnten die Staaten mit Sklaverei ihre zahlenmässige Unterlegenheit im Senat im Repräsentanten-Haus durch den Proporz, dank der mitgezählten Sklaven, aufwiegen.

 

Wie erwartet, beleuchtet Amar’s MOOC zur amerikanischen Verfassung viele zeitgenössische Debatten. Eine der wichtigsten Einsichten ist nicht wirklich überraschend: Auch eine wortwörtliche Interpretation der Verfassung kann zu Problemen in der gerichtlichen Anwendung führen. Das Dokument muss deshalb auch in den historischen Kontext gestellt werden, die wahren Absichten der Verfassungsgeber müssen hergeleitet werden. Zudem ist es auch wichtig, die „gelebten“ Werte in der amerkanischen Gesellschaft in die Interpretation hineinzu-nehmen. Die Auslegung der Verfassung durch den „Supreme-Court“ muss sich demnach auch den Lebens-Realitäten im Zeitablauf anpassen. Gerade diese Problematik macht Amar mit vielen Beispielen wie Abtreibung, Homo-Ehe, Todesstrafe etc. gut begreifbar.

 

Die Methode, chronologisch zuerst durch die eigentlichen Verfassungsartikel und dann durch die „Amendments“ zu gehen und diese immer in den historischen Kontext zu stellen, macht das Gesamtwerk auch einem Laien verständlich. Ebenfalls sehr spannend war die Besprechung von zahlreichen zentralen Entscheidungen des Supreme-Courts, die jeweils massiv geprägt waren durch die Zusammensetzung des Richtergremiums bzw. der Person des Chief Justice.

 

Neben dem Inhalt der eigentlichen Verfassung gelingt es Amar auch, die institutionellen Eigenheiten der amerikanischen Demokratie klar aufzuzeigen. Über die konventionelle Gewalten-teilung Legislative / Exekutive / Judikative hinaus, zeigt er auch klar das Zusammenspiel dieser demokratischen Gewalten sowie die notwendigen „Checks and Balances“. Auch wird einem das Verhältnis zwischen der nationalen Ebene und den Gliedstaaten aufgezeigt und mit guten Beispielen veranschaulicht.

 

Alles in Allem war der Kurs eine echte „Erleuchtung“ für mich. Durch die Konfrontation mit einem anderen Modell der Demokratie konnte ich mich auch gleichzeitig wieder mit dem Schweizer Modell vertieft auseinandersetzen. Das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden wird mir in Zukunft viel leichter fallen. Der MOOC wurde ergänzt durch zusätzliche Texte und Tests, die einem das eigene Verständnis erleichterten und zeigten, ob man das Grundsätzliche verstanden hatte. Ich freue mich sehr, hoffentlich bald die beiden Standardwerke von Amar zur Amerikanischen Verfassung auch noch in Textform aufar-beiten zu können.

 

Zudem bin ich froh, im April nächsten Jahres eine 4-wöchige Erkundung von Washington DC organisieren zu können, wo sich mir die einmalige Gelegenheit bieten wird, die historischen Hintergründe und die wichtigsten Schauplätze 1:1 erleben zu können. Der MOOC zur Geschichte des Amerikanischen Kapitalismus und die Lektüre des Lehrbuches „American Democracy Now“ werden meine Erkenntnisse dieses MOOC’s bis dahin ebenfalls ideal ergänzen.

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