The Taste of Ashes / Marci Shore

Mit der Lektüre dieses Buches habe ich ein Experiment gewagt, ein ziemlich schwieriges. Dazu muss noch erwähnt werden, dass ich das ganz bewusst getan habe. Wie so oft bin ich relativ zufällig auf dieses Buch gestossen, beim "Browsen" durch die Geschichtsbücher zum Thema "Osteuropa" bei amazon.de . Die Besprechungen haben mich neugierig gemacht auf diese Autorin, obwohl sie viele kritische Punkte beinhalteten, die ich jetzt, nach der Lektüre, grösstenteils nur bestätigen kann.
Das Buch setzt viel voraus, was ich noch nicht mitbringe: Kenntnisse über Kommunismus, Stalinismus, Zionismus etc., alles Konzepte, die mir im Groben und Oberflächlichen zwar bekannt sind, aber eben nur so. Dennoch habe ich die Herausforderung angenommen, denn versprochen wurde mir ein subtiles Zeitgemälde, mit vielen Beiträgen von Zeitgenossen, die wissen, worüber sie reden.
Marci Shore, die Autorin, lässt den Leser an ihrem umfassenden Wissen (und ihrem noch grösseren Netwerk an Zeitzeugen) teilhaben, welches sie über die Jahrzehnte in akribischer Kleinarbeit in Archiven und persönlichen Gesprächen zu den relevanten Themen aufgebaut hat. Shore ist vorbildlich, gerade als Amerikanerin, und lernt Tschechisch, Polnisch, Russisch, Yiddish etc., um ganz in die Problematik eintauchen zu können. Darüber hinaus ist sie bereit, viel Zeit "in den Kulturen selbst" zu verbringen und so auch z.B. als Lehrerin in der tschechischen Provinz zu arbeiten. Alles Sachen, um die ich sie irgendwie beneide...
Doch worum geht es eigentlich in diesem Buch? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Vordergründig geht es darum, die Entwicklung unterschiedlicher Länder wie CZ, SK, PL und HUN nach 1989 aufzuzeigen, deshalb ist mir das Werk auch aufgefallen. Aber eigentlich geht es viel tiefer.
Wie war es möglich, dass sich die sogenannte Intelligentsja dieser Länder vom Kommunismus und noch schlimmer, vom Stalinismus verführen liess? Welche Unterschiede sind dabei von Familie zu Familie und z.T. auch innerhalb einer Familie auszumachen? Welche Rolle spielt dabei die Religion, insbesondere die jüdische? Luden sich die jeweiligen Akteure dabei individuelle Schuld auf, oder müssen sie sich dafür "nur" schämen?
Nur ein Beispiel: Milan Kundera. Er soll einen "einfachen, harmlosen" Spion verraten haben, als dieser zufällig in sein Leben tritt. Er soll ihn denunziert und den Behörden ausgeliefert haben, die ihn prompt für Jahre ins Arbeitslager steckten. Macht sich Kundera deshalb schuldig, ein totalitäres System unterstützt zu haben (mit deren Grundphilosophie, dem Marxismus, er sich zu dieser Zeit übrigens inhaltlich identifizierte) oder muss er sich einfach nur dafür schämen? Unterschiedliche Protagonisten geben in diesem ausgewogenen Buch ganz unterschiedliche Antworten. Und ziehen daraus teils drastische Konsequenzen. Doch gibt es überhaupt jemanden ohne Schuld, der diese schwierigen Zeiten in Osteuropa durchlebt hat?
Noch viel näher gingen mir die Ausführungen über das Warschauer Ghetto, die damit zusammen hängenden Aufstände und deren blutige Niederschmetterung durch die Nazis, das tatenlose Zuschauen der Roten Armee trotz flehender Bitten aus den Reihen der polnischen Exilregierung in London.
Oder die Nachkriegs-Progrome in Polen, z.B. in Jedwabne, wo die durch den Krieg schon beinahe vollständig ausgelöschte jüdische Bevölkerung zu Dutzenden, Kinder, Frauen, Alte, in einer Scheune bei lebendigem Leibe von der polnischen, nicht-jüdischen Bevölkerung massakriert wurde. Und das, wohlbemerkt, nur Jahre nach dem Holocaust und dem "Nie-wieder-Reflex".
Auch die unglaublichen Schauprozesse gegen "Feinde des Systems", nicht nur in der Sowjetunion unter Stalin, sondern auch in der ehemaligen CSSR und Polen. Hier verwunderten mich vor allem die nicht-vorhandene Gegenwehr der Protagonisten aus den Kreisen der Dissidenten. Shore klagt aber, zumindest in diesen Fällen, nicht an, sondern sie versucht subtil die Umstände für solches "Fehlverhalten" aufzuzeigen, das häufig zum Schutze von Familie oder Freundeskreis diente. Zudem verficht sie die klare Position, dass jemand, der nie in solchen totalitären Systemen gelebt und überlebt hat, kein Recht zur Anklage hat, da man somit den Beweis quasi verpasst hat, es besser gemacht zu haben (dieses Argument lässt sie übrigens auch gegen sich selber gelten).
Mit diesem Buch habe ich viel über die Geschichte dieser Länder erfahren, insbesondere über deren dunkleren Seiten. Das hat mir die Autorin allerdings nicht einfach gemacht, manchmal hätte ich das Buch gerne einfach, nicht fertig gelesen, zugeschlagen bzw. vom Tablet gelöscht. Fast schon verwirrend ist die Erzählstruktur, die hin und her springt in Zeit und Geografie, die zwar immer gleichen Exponenten auf den ersten Blick wild durcheinander zu Worte kommen lässt. Da braucht es viel Energie des bemühten Lesers, das Ganze irgendwie zu ordnen und so den Überblick zu wahren.
Aber der Aufwand und die Mühe haben sich gelohnt, ich habe richtig Lust gekriegt, mich vertieft in die interessanten Fragen dieses Werkes zu stürzen. Allerdings will ich zuerst etwas systematisch vorgehen und mir Grundlagen zu Nazideutschland, Kommunismus, Sowjetunion, Charta 77, Havel, Kundera, etc. erarbeiten. Der Autorin bin ich dafür sehr dankbar, auch für die zugegeben etwas wirre Zeitreise, die mir viele Inspirationen für meine Reise durch das Baltikum und Polen geschenkt hat.

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