"Sapiens - A Brief History of Humankind" / Yuval Noah Harari
Vor kurzem habe ich das Buch von Yuval Noah Harari in der Hörbuchversion beendet. Es ist so provokativ und wirft so viele Fragen zur Geschichte der Menschheit auf,
dass ich wusste, dass es mich sicherlich länger beschäftigen würde. Und es enttäuschte mich nicht. Deshalb möchte ich es mit diesem Blog-Beitrag vertiefen.
Harari, ein israelischer Historiker, stellt sich einer gewaltigen Aufgabe: die gesamte Geschichte der Menschheit auf nur 400 Seiten zu erzählen. Ich habe schon
immer Autoren bewundert, die es wagen, die Verbindungen zwischen den Ereignissen der Geschichte zu ziehen und Sinn aus ihrem weiten Verlauf zu machen.
Harari konzentriert sich auf einen kurzen Zeitraum, nämlich die letzten 70’000 Jahre der menschlichen Geschichte, ist seine Aufgabe nicht minder
herausfordernd. Er versucht zu erklären, wie wir, «Homo sapiens» (Latein für «der weise Mensch»), die Erde dominierten und was in der Zukunft für unsere Spezies auf uns zukommen könnte.
Die meisten Menschen nehmen an, dass wir immer die herrschende Spezies waren, die über die übrigen Tiere herrschten. Doch Harari erinnert uns daran, dass wir lange
bevor wir die Pyramiden errichteten, Symphonien komponierten oder den Mond betraten, nichts Außergewöhnliches waren. «Das Wichtigste, was man über prähistorische Menschen wissen muss», schreibt
Harari, «ist, dass sie unbedeutende Tiere waren, deren Einfluss auf ihre Umwelt genauso gering war wie der von Gorillas, Glühwürmchen oder Quallen.
»Vor 100’000 Jahren war der «Homo sapiens» nur eine von mehreren menschlichen Arten, die um die Vorherrschaft kämpften. Wie wir heute verschiedene Bären- oder
Schweinearten kennen, gab es auch unterschiedliche Menschenarten. Während unsere Vorfahren hauptsächlich in Ostafrika lebten, bewohnten unsere Verwandten, die Neandertaler («Homo
neanderthalensis»), Europa. Eine andere Art, «Homo erectus» (aufrecht gehende Menschen), bewohnte Asien, und die Insel Java war die Heimat des «Homo soloensis». Jede Art passte sich ihrem
eigenen Lebensraum an. Einige waren grosse, furchterregende Jäger, während andere zwergwüchsige Pflücker von Pflanzen waren. Trotz aller Unterschiede gibt es Hinweise auf Kreuzungen zwischen
diesen Arten. So entdeckten Wissenschaftler bei der Kartierung des Neandertaler-Genoms, dass Menschen europäischer Herkunft heute einen kleinen Prozentsatz an Genen von ihren
Neandertaler-Vorfahren in sich tragen. Das ist sicher eine interessante Ergänzung zu vielen Familienstammbäumen.
Heute gibt es nur noch eine menschliche Art. Wie kam es dazu, dass wir, «Homo sapiens», so erfolgreich wurden, während andere ausstarben? Harari ist der Ansicht,
dass unsere einzigartigen kognitiven Fähigkeiten den entscheidenden Unterschied ausmachten. Vor etwa 70.000 Jahren erlebte «Homo sapiens» eine „kognitive Revolution“, die uns über unsere
Rivalen erhob und es uns ermöglichte, aus Ostafrika in alle Teile der Erde zu verbreiten. Andere Arten hatten ebenfalls große Gehirne, aber was den «Homo sapiens» so erfolgreich machte, ist
die Tatsache, dass wir die einzigen Tiere sind, die in der Lage sind, gross angelegte Kooperationen zu organisieren. Wir wissen, wie wir uns in Nationen, Unternehmen und Religionen organisieren,
was uns die Fähigkeit verleiht, komplexe Aufgaben zu bewältigen.
Was Hararis Perspektive besonders auszeichnet, ist sein Fokus auf die Macht von Geschichten und Mythen, die Menschen vereinen. Paviane, Wölfe und andere Tiere
wissen natürlich auch, wie man in Gruppen funktioniert, doch ihre Gruppen sind durch enge soziale Bindungen begrenzt, die die Gruppengrösse auf kleine Zahlen beschränken. Der «Homo sapiens»
besitzt jedoch die besondere Fähigkeit, Millionen von Fremden um gemeinsame Mythen zu vereinen.
Ideen wie Freiheit, Menschenrechte, Götter, Gesetze und Kapitalismus existieren in unserer Vorstellungskraft, doch sie vermögen es, uns zusammenzubringen und uns zu
komplexen Aufgaben zu motivieren.
So sehr ich «Sapiens» auch genoss, gab es doch einiges, dem ich widersprechen muss. Ein Beispiel: Harari versucht zu beweisen, dass die «agrarische
Revolution» einer der grössten Fehler in der Geschichte der Menschheit war. Ja, sie ermöglichte das Aufblühen von Zivilisationen, aber auf individueller Ebene, so schreibt er, ging es uns
als «Jäger und Sammler» weitaus besser. Als Bauern mussten die Menschen viel härter arbeiten und hatten dafür eine schlechtere Ernährung als in der Zeit des Sammelns. Agrargesellschaften schufen
auch soziale Hierarchien, in denen die Mehrheit als Bauern schuftete, während eine Elite über sie herrschte.
Das ist sicherlich ein provokanter Standpunkt, doch ich bin nicht davon überzeugt. Erstens führt die Argumentation, dass wir als «Jäger und Sammler» glücklicher
waren als als Bauern, zu einer Wahl, die gar nicht existiert. Es ist nicht so, als könnten wir die Zeit zurückdrehen und als «Jäger und Sammler» neu beginnen oder ein Experiment durchführen, das
beweist, dass eine Lebensweise besser ist als die andere. Zweitens unterschätzt Harari meiner Ansicht nach die Härten des Lebens als «Jäger und Sammler». Er legt nahe, dass die Todes- und
Gewaltzahlen in diesen Gesellschaften viel niedriger waren als nach der «agrarischen Revolution». Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Gewalt aufgrund des Wettbewerbs um Ressourcen höher
war. Eine landwirtschaftliche Gesellschaft kann weit mehr Menschen pro Quadratkilometer unterstützen als eine Gesellschaft von «Jägern und Sammlern». Um die Bevölkerungsdichte niedrig zu halten,
war Konflikt unter Gruppen von «Jägern und Sammlern» unvermeidlich. Schliessslich übersieht die Bezeichnung der «landwirtschaftlichen Revolution» als Fehler die Tatsache, dass
landwirtschaftliche Gesellschaften in der Lage waren, sich zu spezialisieren, was zu geschriebenen Sprachen, neuen Technologien und Kunst führte – alles Dinge, die wir heute zu Recht
wertschätzen.
Nichtsdestotrotz würde ich dieses Buch jedem empfehlen, der sich für einen unterhaltsamen und anregenden Blick auf die frühe Geschichte der Menschheit interessiert.
Es hinterliess bei mir eine übergreifende, historische Struktur, auf der ich aufbauen kann, während ich mehr lerne. Gleichzeitig erzählt Harari unsere Geschichte auf so zugängliche Weise, dass es
schwerfällt, es nicht rasch zu erkunden. Er verwendet lebendige Sprache um seine Thesen zu veranschaulichen und er ist ein geschickter Erzähler, der unterhaltsame historische Anekdoten einwebt,
wie die Bedeutung von Sauerkraut für die Seefahrt und warum die frühesten bekannten Schriftzeichen vor 5.000 Jahren ein wenig enttäuschend sind.
Ich denke, viele Leser werden besonders dem letzten Kapitel des Buches anregend finden. Nachdem er durch Tausende von Jahren Geschichte marschiert ist,
wird Harari philosophischer, wenn er über unsere heutige Spezies und unsere mögliche Zukunft nachdenkt. Er fragt sich, wie künstliche Intelligenz, genetische und andere Technologien unsere
Spezies verändern könnten.
Er stellt auch grundlegende Fragen über das Thema «Glück». Wann in unserer langen Geschichte als «Homo sapiens» waren wir am erfülltesten? Als «Jäger und Sammler»,
die Mammuts jagten? Als Bauern, die den Boden bestellten? Vielleicht als gott-fürchtige Bauern im Mittelalter? Noch grundlegender fragt er: Wer sind wir als «Spezies»? Und wohin gehen wir? Das
sind grosse Fragen, die so alt sind wie die Geschichte unserer «Spezies».
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